Mittwoch, 7. Dezember 2011

IMAGINAERUM

(Nightwish)

Heute mache ich mal was relativ Seltenes: Ich empfehle ein Album! Eigentlich könnte ich das viel öfter tun, mache es aber nicht. Ich habe einfach den Eindruck, daß es nicht wirklich viele der Leser interessiert. Gut, damit, daß ich euch mit Pearl Jam nerve, müßt ihr einfach leben. Aber da draußen  gibts noch soooo viel andere, hörenswerte Musik. Ein Beispiel dafür will ich heute mal kurz belobhudeln:

imaginaerum

Ich mag und höre Nightwish seit mittlerweile gut 10 Jahren, seit der GVH mich erstmals an die bis dato erschienenen Alben der Band heran führte. Damals war Symphonic-Metal noch relativ neu für mich. Madame Turunen zudem mit einem Stimmchen gesegnet, das einfach charakteristisch und ungewöhnlich war im Metal-Zirkus. Dazu gabs noch die zum Teil harte, aber immer ein wenig verspielt bombastisch und märchenhaft daher kommende Sounduntermalung. Nightwish konnten neben Metal schon immer auch erstklassige Metal-Balladen schreiben und/oder performen. Wie zum Beispiel diese hier:

Dann kam irgendwann im Kielwasser des Animationsfischchens die Singel “Nemo” ganz groß raus und meine Wenigkeit stand erstmals (2004) in der Crowd bei einem ihrer Konzerte. Kurz darauf flog Tarja aus der Band und es wurde zunächst einmal still um die Finnen. Viele besangen schon das Ende der Band, denn ohne das “Label” Tarja Turunen und vor allem ohne ihre Stimme konnte sich keiner mehr so richtig vorstellen, daß das weiter funktionieren könnte. Man ließ sich aber ordentlich Zeit im hohen Norden und besorgte sich mit Anette Olzon eine neue Sängerin. Stimmlich eine ganz andere Liga – nicht so markant und hervor stechend, aber sympathisch und sie passte auf ihre Art auch zur Band. Wie gut, davon konnte man sich auf “Dark Passion Play”, dem ersten Longplayer mit ihr überzeugen… und natürlich auf der Tour – Konzert Nr. 2 eingetütet. Musikalisch wirkte man auf diesem Album auch ein ganzes Stück reifer und wenn man jetzt zurückhört, dann ging das damals schon arg in die Richtung von “Imaginaerum”. Aber es war noch nicht so auffällig. Dennoch nahm man bereits damals einen Schuß Epik sowie ‘ne Schippe Komplexität mehr mit in die einzelnen Songs auf.

Letzten Freitag kam endlich “Imaginearum” raus, das lang erwartete und von der Musikpresse bereits im Vorfeld mit Lob förmlich überschüttete zweite Album nach dem Frontfrauwechsel heraus. “Meisterwerk” oder “Metal-Platte des Jahres” war da zu lesen. Ich gebs zu: Beim letzten Punkt war ich skeptisch. Letzten Freitag lieferte Amazon pünktlich und ich konnte seit dem eine knappe Woche mit der scheibe verbringen und bin begeistert! In einer Zeit, wo man sich einzelne Songs jederzeit von überall auf jede mögliche Plattform runter laden kann, wo das “Album” als solches immer mehr an Bedeutung verliert und zur reinen Ansammlung von potentiellen Klingeltönen verkommt, da hat eine Band noch den Arsch in der Hose so etwas wie ein Konzeptalbum auf den Markt zu schmeißen. Das Ding ist von vorne bis hinten stimmig, da passt alles, da stört nix! Man hat bei den ersten Hördurchläufen Probleme die Songs auseinander zu halten, beziehungsweise zu erkennen ob ein Song aufhört oder nur mal wieder einer der reichlich vorhandenen Tempiwechsel ansteht. Man muß das Ding schon ein paar Mal hören, bevor es sich einem erschließt, aber dann ist es einfach nur sensationell! Das Songwriting ist derart komplex und ausgefrickelt, daß man nur staunen kann. Dazu sind nahezu alle Zutaten drin, die man so in ein Symphonic-Metal-Album mixen kann: Kinderchöre, Streicher, Panflören (jahaaaa… im Ernst), Orchesterelemente… aber das wirkt trotzdem alles ausgewogen, nicht überladen oder gezwungen. Es muß eine Heidenarbeit gewesen sein, die Songs so zusammen zu basteln und dann noch aufeinander abzustimmen. Zudem nutzen Nightwish – was ich einfach nur großartig finde – endlich Marco Hietala als Zweitstimme richtig aus. Nicht mehr nur Backingvocals, nein, der Kerl singt mit! Perfekt! Im einzelnen:

1. Taikatalvi – Spieluhr & Hietala mit einem finnischen Liedchen… Streicher und sparsames Orchester dazu. Ein – für dieses Album – perfektes Intro! Ich liebe solche langsamen Introsongs ja (Ganz groß in dieser Kategorie auch “Lullaby” von QOTSA). Man wird ins Album hinein geleitet und schnurstracks gehts weiter mit:

2. Storytime – Zugegebener Maßen das radiokompatibelste Stück. Allerdings bei Weitem nicht radiokompatibel genug. Man hat die veröffentlichte Single-Version nämlich gehörig abgespeckt. Fürs Radio mag das ja gut sein, für den Song ist es das nicht. Der Album-Edit ist einfach um Längen besser. Rein in die Geschichte und zwar mit ordentlich Drive. Als ich das Video sah, hätte er im Nachhinein nur 6 von 10 Punkten erhalten, die Album-Version sahnt locker 8,5 ab! Die Chor-Parts haben Klasse und es ist einfach der Wahnsinn, was man auf eine derart simple aber eingängige Drumline für einen tollen Song packen kann.

3. Ghost River – Das Tempo wird gleich mal beibehalten. Ghost River ist derzeit mein absoluter Favorit auf der Scheibe. Er nimmt zunächst die eben angesprochene Drumline von “Storytime” auf, klingt deshalb zu Beginn wie die logische Fortsetzung des Vorgängers. Dann wälzt sich der Song aber ein wenig zäh in den ersten Refrain (was die ersten zwei bis drei Durchläufe merkwürdig klingt; wenn es ein Mal “klick” gemacht hat aber ein genialer Übergang ist)! Der Refrain an sich wird von Hietala übernommen und hat richtig Zug zum Tor! Ein absoluter Ohrwurm das Ding! Dazu übernimmt Anette zeitweilig die Backingvocals, was mit Tarja wohl nicht gegangen wäre (Ego…) und neben ein paar kleinen Charakterwechseln des Songs von melodiös bis giftig überrascht einen plötzlich ein Kinderchor mit dem Refrain. Der Song lebt von den Wechseln im Tempo, in der Stimmung und in der Wahl der Mittel. 9 Punkte gibts hier für diese wilde, musikalische Schlacht zwischen gut und Böse.

4 Slow, Love, Slow – Erster Ruhepol des Albums. Hier mag man streckenweise das Label “Metal” nicht mal ansatzweise antackern. Besonders zu Beginn ist das eher Bar-Jazz. Sehr guter Bar-Jazz mit wiederum harmonierenden Konterstimmen von Olzon und Hietala. Langsam wächst der Song an, wird voller und komplexer. Ganz andere Kategorie als die bisherigen Songs. Außerdem kommt Olzons Stimme hier voll zum Tragen, das hat was das angeht die selbe Qualität die “Ever Dream” vor ein paar Jahren – ein absolutes Highlight. Gegen Ende wird der Song richtig schwer durch ein finsteres Klavier und zähflüssige Gitarrenriffs und Anettes Gesang wandert Richtung Soul. Auslaufen läßt man das Stück mit Pendenschlägen einer Uhr.

5. I Want My Tears Back – Dieses Tick-Tack-Tick-Tack geht dann in eine gitarrenlastige Trotzreaktion über. Für mich der einzige Kandidat für eine zweite Single auf dem Album. Man steuert stark in Richtung Folk, landet bisweilen schon fast im selben Klanggarten wie Blackmores Night. Außerdem wieder Hietala perfekt eingebunden. Das Album wird und wird nicht schwächer!

6. Scaretale – Ein weiteres 7 Minuten Brett. Zunächst eingeleitet wie ein Gruselfilm geht man schnell zu Klängen über, die jedem Tim Burton Film gut zu Gesicht stehen würden, bevor man mit Chor und jeder Menge Bumms und einer Double-Bass-Drum-Attacke in den schnellen und dann doch verspielten und sehr voluminösen Hauptpart einsteigt. Der Titel passt zum Song wie der sprichwörtliche Arsch auf den Nachttopf. Wieder diese charakteristischen Tempowechsel, das Spielen mit verschiedenen Elementen und Instrumenten und den zwei Sängern. Für mich das ausgeklügeltste Stück auf dem Album. Diese Verbindung von Burton und großer Rockoper, verbunden durch Orchesterüberleitungen. Ein Vergnügen der Song!

7. Arabesque – Zur Abwechslung mal keine 3 Minuten lang. So eine Art Zwischenspiel, welches zur Hälfte des Albums ein wenig Spannung aufbauen, aber gleichzeitig Zeit zum Durchatmen lassen soll. Passt herrlich an die Leierkastenüberleitung aus “Scaretale”. Wie der Name schon sagt mit orientalischen Einflüssen versehen setzt es alles fort, was die Scheibe bisher so hergegeben hat. Daß das bis auf die Chorelemente ein Instrumental ist stört nicht im Geringsten!

8. Turn Loose the Mermaids – Das nächste Märchen wird musikalisch dargeboten. Schöne Ballade mit schwebenden Streichern, Panflöten und einem traumhaft eingängigen Refrain. “At the end of the river…” sage ich nur. Dazu hat man gegen Ende ein paar leichte Anleihen an den Italo-Western und wiederum eine Prise Folk einfließen lassen. Einfach ein schönes Lied, mehr kann man dazu nicht sagen.

9. Rest Calm – Es wird wieder härter, aber nicht weniger komplex. Vor allem kreischt Hietala wieder wohltuend gegen zu viel akustische Wohlgefühle aus dem vorherigen Song an. Zum Refrain wird das Tempo immer heraus genommen, was das Ganze nur noch wirkungsvoller rüber kommen läßt. Außerdem hier das erste nennenswerte Gitarrensolo – im neunten Song auf einem Metal-Album… mehr muß ich wohl nicht sagen. Aber auch dieser Anflug wird dann vom Kinderchor im Background zu Anette gleich wieder verdrängt; und zwar ohne daß es mich stört! Am Ende baut sich der allgemein gesungene Refrain zu einem bombastischen Finale auf! Ein Genuß!

10. The Crow, The Owl, and The Dove – Was hatten wir noch nicht? Richtig: Akustische Gitarren. Die kommen jetzt zum Einsatz um ein schönes Midtempostück einzuleiten. Begonnen wieder als Duett zwischen Anette und Hietala. Nach und nach setzen weitere Instrumentengruppen ein, diesmal aber ohne gegenüber den Vocals irgendwie in den Vordergrund zu treten. Der Song wirkt wieder wie eine Antithese zum Vorgänger – und passt doch perfekt zu ihm. Dazu noch ein tolles, vom Klavier getragenes Ende.

11. Last Ride of the Day – Kann man ruhig wörtlich nehmen. Dem Affen wird nochmal Zucker gegeben. Außerdem wird die Bandbreite von Anettes Stimme in dem Lied besonders gut klar. In der Melodieführung wieder in Richtung Folk gehend wird die Instrumentierung aber wieder deutlich aufmunitioniert im Vergleich zum letzten Song. Der Song bereitet einem nochmal richtig Freude kann ich euch sagen. So etwas wie der letzte große Showdown in diesem akustischen Kopfkinofilm.

12. Song of Myself – Ein 13:37 Minuten Mammutwerk zum Schluß. Hierzu sollte man finde ich weitgehend schweigen. Das Ding muß man einfach von vorne bis hinten hören. Um im Film-Bild zu bleiben: Die Schlußszene. Erst noch großer Bahnhof und dann das Stroytelling zum Ausklang.

13. Imaginaerum – … auf die in der Regel der Abspann folgt. GENAU DAS ist der letzte Track. Er verbindet das ganze Dutzend seiner Vorgänger zu einem Ganzen. Der perfekte Abschluß für das Album. Wer auch immer die Idee dazu hatte, sie ist auf diesem Album so folgerichtig wie genial. Nichts, aber auch gar nichts anderes hätte die Scheibe perfekter beschließen können.

 

Ich weiß, daß einige die diesen Blog hier lesen mit Nightwish nicht sonderlich viel anfangen können / konnten. Aber all denen kann ich nur eindringlich raten der Scheibe einfach mal ne Chance zu geben. Ernsthaft! Ihr verpaßt sonst richtig was! Das letzte Album welches ich in die Hände bekommen habe und das von der Stimmigkeit, der Komplexität der Songs und der gesamten Thematik so detailliert ausgearbeitet und “rund” war, war “10.000 Days” von Tool (kann man nicht miteinander vergleichen, ich weiß, aber das ist der einzige Vergleich, der mir 1. einfällt und der 2. vor allem auch zutrifft)… und das war 2006! Seit dem nix mehr! Wenn die Band am Tag der Arbeit des nächsten Jahres die Bühne der Arena Leipzig betritt, dann bin ich mal gespannt, wie sie diese Songs Live rüberbringen. Auf Silberling ist das Teil perfekt, aber als bühnenkonformes Album kann man das bei all den verschiedenen Instrumenten, Einflüssen und Chören sowie des extrem ausgefeilten Timing der Lieder beim besten Willen nicht bezeichnen. Wie gesagt: Ich bin gespannt! Wenn sie das alles auch nur annähernd 1:1 auf die Bühne bringen, dann sollten sie das Ding bitte, bitte, bitte auch von 1 bis 13 durchspielen. Komplett am Stück. Denn das ist für mich endlich wieder mal ein Album von dreizehn zusammengehörigen Songs, keine Singlecollection. Ganz großes Tennis! Doch was solls, ich sollte vielleicht nicht dran zweifeln, daß man das auf einer Tour live umsetzen kann, denn wer so ein Album schreiben kann, dem fällt zu diesem Problem auch was ein. Schließen wir mal mit meinem bisherigen Lieblingssatz des ganzen Albums und von “Song of Myself” im Speziellen:

“All I am, is smoke and mirrors.”

PS: Keiner Tipp: Die 3 Euro mehr für die Deluxe – Editon lohnen sich. Nicht wegen dem Poster, das ist eher überflüssig, aber die beiliegende Bonus-CD enthält das ganze Album als Instrumental – Variante. Bei der Scheibe ein wahres Kleinod.

4 Kommentare:

  1. Oh, schön ausführlich. Gerade vor Weihnachten interessiert das bestimmt viele LeserInnen, die noch auf Geschenkesuche sind.

    Ich danke dir für deinen Kommentar. Ja, komm doch einfach öfter. ;) Wo lebst du denn jetzt, du Wolkenkuckuksheimerin?

    Ich wünsche eine gute Nacht :)
    xoxo
    wieczorama Fotoblog

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  2. Ich danke Dir für die ausführliche Besprechung! Wo muss ich unterschreiben?

    Ich freu mich auf Leipzig. Die machen das schon...

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  3. @wieczorama: Sehr individuell zugeschnittener Kommentar...

    gez.: Die Wolkenkucku(C)ksheimerin

    @GVH: Deine Zustimmung erfreut mein Herz! ;-)

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  4. Ach neee, die wieczorama mal wieder auf Klicksejagd, hihi.
    (Aber das nur am Rande.)

    Der Urlauber hat heute früh die Liedchen da oben angeworfen - und ich musste weg, OHNE sie in den "Don FR" übertragen zu kriegen und mich mit dem (ollen) over the hills trösten. :( Aber jetzt!

    Grüße! N.

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