Mittwoch, 14. November 2012

SIX SHOOTER

(Queens of the Stone Age)

“Jetzt seid doch mal nicht alle so aufmüpfig, liebe Leute!” sagte der seltsam blutverschmierte Clown, während er die qualmenden Colts wieder in die Halfter gleiten ließ zu den leblosen Körpern in die er die Anwesenden gerade verwandelt hatte. Um ihn herum herrschte Chaos und er überblickte die Szene auf dem Tresen stehend mit einem seltsam kalten Grinsen im Gesicht, während der Barmann sich hinter ihm zitternd an die Rückwand seiner Schnapsbar drückte und sich nicht traute die bereits im Anschlag befindliche doppelläufige Schrotflinte auf den finsteren Gesellen abzufeuern, der da soeben seinen Laden in einen Tatort verwandelt hatte. Er ließ die Waffe sinken und schloß die Augen, nur nichts mehr sehen von all dem Wahnsinn, der ihn da eingeholt hatte, das war seine Divise. Wo und wann hatte das alles angefangen? Damals, als er zusammen mit seiner Alibifreundin und einem dreibeinigen Labradorwelpen vor “Ihnen” in die konspirative Wohnung seines Halbbruders geflüchtet war? Oder sogar noch früher? Er wußte es nicht. Das Einzige, dessen er sich sicher sein konnte, war jene kaltblütige Unbarmherzigkeit, mit welcher dieser Kerl mit den lächerlich großen Schuhen soeben all seine Stammgäste sowie diese sturzbetrunkene Hochzeitsgesellschaft an Tisch 17 ausradiert hatte. Die Jukebox dudelte zynisch “Holocaust” von Placebo ins Zwielicht der Bar, während sich die in der Luft stehenden Wolken aus Pulverdampf und aufgestobenem Blut unheilvoll vermischten. Hatte er all das, was auf die Wohnung und den von ihm begangenen “Mord am Don” – der hier aber keine spielentscheidende Rolle spielt - folgte am Ende überstanden um hier von einem geschminkten Freak in seiner eigenen Bar humorlos über den Haufen geballert zu werden? Nicht einmal die Mafia hatte ihn erwischen können und das obwohl sie die wohl gründlichste Rasterfahndung aufgezogen hatten, die die Halbwelt dieser Stadt jemals gesehen hatte. Sein überraschendes Entkommen damals, sein auf den ersten Blick naheliegender, aber später doch sehr mühsam umzusetzender Start als Bareigentümer, welcher ihm über einige Jahre ein vernünftiges Einkommen und wenigstens die Illusion von Normalität boten, erschienen ihm nun, am Ende der Reise, doch nur wie  eine Nulllösung für die Probleme, welche er damals hatte und die er hinter der Fassade seiner kleinbürgerlichen Spelunkenexistenz eigentlich nie wirklich gelöst hatte. Nun fiel es ihm wieder ein, das, was das alles auslöste. Der Ursprung, die “Stunde Null” wenn man so will. Der Punkt, an dem irgend jemand oder irgend etwas im Hintergrund begann all die Fäden zu spinnen, die erst scheinbar wirr auseinander liefen, sich nun aber zu einem Seil versponnen um seinen ungewaschenen Hals zusammen zogen.

Es war im Jahr 1983 – eine halbe Ewigkeit her – als er für sich beschloß, daß er dem, was in diesem Jahr unter dem Motto “Ellenbogengesellschaft” diskutiert wurde auf möglichst bequeme Weise zu entkommen hatte. Statt sich täglich in der Fischfabrik abzurackern und den Feierabend nur taten- und motivationslos in Saufbuden, Bordellen und Spielhöllen zu verbringen, wollte er lieber das süße Leben auf einer gottverdammten Südseeinsel mit Hulabräuten und Schirmchendrinks verbringen – auf den Lofoten zum Beispiel, er war was den Ort anging nicht sonderlich anspruchsvoll. Es war ein überaus heißer Herbst 1983, was den ihn anhaftenden Geruch nach Sardinenöl, den er auch nach Feierabend nicht wieder los wurde, zusätzlich verstärkte – er hatte es satt. Er schwang sich eines Tages in sein Umweltauto – ein 52er Ford, den er im Wesentlichen wegen des allgemeinen Verwesungszustandes des Interieurs so bezeichnete – und fuhr zunächst ziellos durch die Stadt. An einer Straßenecke investierte er sein restliches Bargeld in einen halbleeren 5 Liter Kanister Glykol für den Abend. Er steuerte auf einen abgelegenen Waldparkplatz hinter dem in der Stadt nur als “Little Tschernobyl” verschrienen Heizkraftwerk (der Ruf dieser schwarz qualmenden Potenzialruine sollte drei Jahre später noch einen richtig herben Schlag erleiden), welches sich gute drei Autostunden von seiner Wohnung entfernt mitten im Nirgendwo hoch über die Baumwipfel erhob und legte sich in das welke Gras um seinen düsteren Gedanken nachzuhängen und sich der vernichtenden Wirkung des Glykols sowie des halben Dutzends Psychopharmakatabletten zu ergeben, welche er seinem Nachbarn aus dem Badschränkchen entwendet hatte. Nach einigen tiefen Schlucken um die Pillen herunter zu spülen versank er dann auch besinnungslos in der Wiese. Er träumte von einem gigantischen Kondom, welches versuchte ihn mit einem dieser neuerdings so beliebten “Gib Aids keine Chance” Aufklebern zu erdrosseln während er selber verzweifelt versuchte einen Staubsauger zu reparieren.

Jetzt, mit fast drei Jahrzehnten Abstand, erkannte er erst die beängstigende Irrationalität dieses Erlebnisses. Allerdings war das auch damals, vor der großen Gesundheitsreform, nach welcher verschreibungspflichtige Medikamente und Glykol in Kombination miteinander irgendwie ihren Reiz verloren hatten. Fuck! Das war sogar noch bevor die große Reisefreiheit über die neuen Bundesländer verhängt wurde. Auch bevor sich seine vierte Ehefrau Sandy mit Holger, einem hochstaplerischen Besserwessi aus dem ehemals amerikanischen Sektor der Hauptstadt in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Bottrop absetzte und ihn mit den Katzen zurück ließ. Er kam selbst aus Ostwestfalen, gut, aber Holger war nun einmal was er war und warum sollte er es dann nicht beim Namen nennen – Besserwessi! OK, das war nun erst letztes Jahr passiert bei genauerer Betrachtung, aber “damals” war immer noch früher als “vorhin” – also passte das schon. Während er darüber sinnierte, was aus dem Sandy und Holger, dem aus ästhetischen Gesichtspunkten die Politikverdrossenheit seiner Generation förmlich in die Visage zementiert war, wohl geworden ist, setzte der Clown sich langsam in Bewegung. Seine überdimensionierten Treter schoben die Fragmente der auf dem Tresen explodierten Flasche Johnny Walker Blue Label (das erste Opfer der vergangenen 120 blutigen Sekunden) über die Kante. Splitter rieselten herab und kullerten in seine Richtung. Da ihm in diesen finsteren Zeiten und nicht zuletzt durch den Sozialabbau welcher den blumigen Versprechungen des Superwahljahres in Form einer sprichwörtlichen Welle der Ernüchterung folgte, die Kunden und somit auch die Einnahmen ausblieben, hatte er die Flasche mit etwas namens “Scotch Guard” - dem billigsten Fusel den er im Sozialkaufhaus hatte klauen können – gestreckt. Es war absurd, daß er ausgerechnet jetzt daran denken musste, während sich ihm der geschminkte Pistolero in der gepanschten Pfütze stehend langsam, zuwandte um sein blutiges Werk zu vollenden. Er selber nahm dies alles wie eine groteske Multimedia – Collage des Grauens wahr: Das Bild des nun die Füße umsetzenden Mordbuben mit der roten Afrofrisur und der ebenso roten Knubbelnase, den immer noch schwer in der Luft hängenden Pulverrauch, das hintergründige Flackern des Fernsehers in der “Sportecke” und die gleichzeitige Beschallung mit depressiven Placebo Liedern aus der verloren vor sich hin seiernden Musikschachtel… .

1983, also damals, als er so auf seiner Wiese lag, hatte er das alles noch nicht wissen können; hatte nicht wissen können, was ihm die Begegnung mit den vermummten Männern, welche ihn aus seinem Delirium heraus rissen noch einbringen würde. Bis er von ihnen in eine Lagerhalle hinter dem, was er für ein Heizkraftwerk hielt geschleift wurde hatte sein größtes Problem in jenem Reformstau bestanden, welcher sein Privatleben seit vier Jahren heimgesucht hatte. Während diese militärisch anmutenden Arschlöcher ihn aber abwechselnd mit Elektroschocks traktierten und sein Antlitz in einem beängstigenden Rot-Grün – Ton faustfärbten bis daß er glaubte an der Hallendecke den Millennium – Falcon umherhuschen zu sehen, kam ihm die unheilvolle Idee, welche ihm all das hier eingebrockt hatte. Den Fragen entnahm er, daß er sich an einem Ort befand, von welchem kein Mensch je erfahren sollte, warum auch immer. Was konnte an einem beschissenen Heizkraftwerk mitten im Wald schon so schockierend sein?! Gut, er hatte untertassenförmige Flugobjekte in einer Art Hangar gesehen die von Roboterdroiden gewartet wurden als er vor den Toren dieses Komplexes lag. Auch war ihm die Armee von Minigodzillas nicht entgangen, die an ihm vorbei marschierte, als er gerade den Kanister zum ersten Mal ansetzte. Auch diese seltsamen vierarmigen Wesen, die mit grün leuchtenden Phaserkanonen auf den Wachtürmen standen kamen ihm ehrlich gesagt ein bisschen spanisch vor, jedoch hatte er das alles bis jetzt auf das Glykol geschoben. Blut spuckend setzte er alles auf eine Karte und handelte mit seinen Peinigern ein großzügiges Schweigegeld aus. Zu seiner Überraschung willigten sie nach kurzer Diskussion ein und er war in den folgenden Wochen erst einmal damit beschäftigt den hohen zwölfstelligen Betrag unauffällig an der Steuer vorbei zu jonglieren, welchen er noch vor Ort in kleinen, unnummerierten 50 Pfennig - Münzen erhalten hatte. Der Deal war einfach: Kohle gegen Schweigen. Seine eigene, kleine Schwarzgeldaffäre sozusagen. Das ging auch über Jahre gut, bis er eben an jenem 11. September vor 6 Jahren nach einer unbedachten Äußerung einer überregionalen Tageszeitung gegenüber überstürzt die besagte Geheimwohnung aufsuchen musste. Dieser Schmierfink von einem Lokalteiljournalisten hatte ihn unter dem Vorwand einer Passantenbefragung zum Thema “Teuro” angesprochen und anschließend nichts besseres zu tun gehabt, als seine Lebensgeschichte, die er dem Kerl zwar ungefragt aber dafür umso ausführlicher dargeboten hatte, in einem 13seitigen Sonderartikel breit zu walzen. Danach waren weder sein Anwesen, noch seine Stadt, auch nicht sein Land und nicht einmal mehr das alte Europa sicher für ihn. Nachdem er 8 Monate nicht vor die Tür ging und die Tage mit Hartz-IV-TV auf RTL totschlug, hatte er die Idee mit der Bar… und auch die mit der neuen Identität. Letztere fraß zwar inklusive der notwendigen kosmetischen Operationen den Rest seines Schweigegeldes auf, dafür ermöglichte sie ihm aber einen Neuanfang. Phänotypisch hätte ihn nicht einmal mehr seine eigene Mutter wieder erkannt, er war so weit entfernt von seinem früheren Ich wie Claudia Roth von der Anrede “Frau Bundeskanzlerin”; wie hätten “sie” ihn denn da aufstöbern können?! Vor zwei Jahren hatte er vor seiner Bar sogar eine eigene, kleine Fanmeile zur Fußball-WM eröffnet und mit zwei Dutzend übergroßen Pappaufstellern von sich im Holland-Trikot verziert ohne daß jemand Verdacht schöpfte. Nicht einmal, als er im Winter darauf vom Balkon des roten Rathauses in Berlin nackt vor den Folgen der Klimakatastrophe warnte und sich gleichzeitig als PETA-Aktivist ausgab, hatte es seine Tarnung auffliegen lassen. Daß er dann mit seiner Kneipe auch noch die Finanzkrise überstand, hatte ihn dann aber übermütig und vor allem unvorsichtig werden lassen. So sah er die Zeichen nicht, welche ihm jetzt glasklar schienen. Dieser bescheuerte Clown hatte sich schon seit Wochen um seine Bar herum gedrückt und Luftballontiere, Plastikblumen und Schnappmesser an vorbei spazierende Kindergartengruppen verteilt. Als er dann nicht mehr auffiel im Umfeld der Bar – was vor etwa 4 Minuten war – hatte er sich die Pistolen umgeschnallt und seinen Laden mit beängstigender Präzision bleientvölkert. Ach ja, und “entvolkert”; denn ihn, den Bierlieferant, hatte es ebenfalls erwischt. Volker hing jetzt aus mehreren Einschußlöchern tropfend links neben ihm über den Tresen und rührte sich nicht mehr während er ihm den Perserteppich versaute, den er hatte in einem Anflug von Größenwahn hinter der Bar verlegen lassen. Eine Schade! Aber jetzt, jetzt war es für den Clown an der Zeit, sich mit einem Finalen Fingerzug quasi die Abwrackprämie für einen zu redseligen Barmann abzuholen, wie es ihm schwante.

Der Clown hatte seine Drehung fast vollendet, eine Bewegung die ihn vielleicht eine anderthalbe Sekunde gekostet hatte. Auf seinem weißen Hemd prangte in grellroten Lettern das Wort “Wutbürger”, wie er nun sehen konnte. Ein dünnes Grinsen teilte die tiefrot geschminkten Lippen während er eher beiläufig einen dicken Kristalltumbler, welcher auf dem Tresen überraschend heil geblieben war, schwungvoll und laut klirrend in das Regal mit den Cognacschwenkern kickte. Dazu noch die blutbesudelte Hose und dieses diabolische, rote Leuchten in den Augen – seine ganze Erscheinung war für die angeschlagene Pumpe des Barmannes selbst ohne Waffen der reinste Stresstest. Langsam zog er mit der Rechten die Waffe aus dem Holster; als er sah, daß der Barmann seine Schrotflinte kraftlos und mit vor Angst und Entsetzen geweiteten Augen aus den schweißnassen Patschhänden gleiten ließ, stieß er ein kehliges, polterndes Lachen hervor. Er legte langsam an und spannte den Hahn. Das dadurch entstandene “KLICK” war in der gespenstischen Ruhe der Bar, welche den Schüssen und dem großen Sterben seiner Stammkundschaft unmittelbar gefolgt war, nahezu unerträglich laut. Der Clown kniff wie in einem schlechten Italowestern das linke Auge zu und gab somit vor zu zielen – Eingedenk der Tatsache, daß er eine absurd große Wumme in den Händen hielt und sich sein Ziel keine 2 Meter von ihm entfernt befand schon ein fast lächerlicher Anblick. Dann erhöhte er langsam, ganz, ganz langsam den Druck auf den Abzug… .

Dem lauten Knall, der daraufhin letztmalig die Nacht zerriß, ging nur ein leise gezischtes “Bielefeld 51” voraus!

Seit 1971 vergibt die Gesellschaft für Deutsche Sprache jedes Jahr den Preis “Wort des Jahres”. Ich dachte, ich stelle euch die Preisträger mal in Form eines kleines “Vierzeilers” vor.

1 Kommentar:

  1. Klein ist relativ und Vierzeiler auch (also so breit ist mein Bildschirm dann doch nicht), nun gut. Aber Bielefeld ... da muss dir ein Fehler unterlaufen sein. ;)

    Sehr schöne Lektüre für meinen fernseh- und schlaflosen Abend. Danke!

    Grüße! N.

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